Crash
Crash
Der Junge im Video korrigiert die Mutter strahlend: „Ich leide nicht unter Autismus, ich hab das einfach nur.“
Ja, ich habe das auch einfach nur. Und was auch immer wir Menschen haben oder nicht haben, wir tun alles dafür, nicht leiden zu müssen. Obwohl das Level an Leid und dessen Akzeptanz oft allzu variabel gehalten wird.
Was nur, wenn ein Leiden plötzlich und unverhofft daherkommt? Plötzlich alles unerträglich ist und plötzlich unsere Welt zerfällt?
Was, wenn wir das Trauma eines Zusammenbruchs sehr fürchten und die Kunst zu Leben darin besteht, diese möglichst zu verhindern?
Mittlerweile habe ich, besonders in den letzten Jahren, viel darüber gelernt, was meine Ängste, mein unterbewusstes Lebensdesign und meine neurodivergente Art betrifft. Eigentlich ein ganz eigenes Thema, wie sich ein (für mich) stressarmes Leben von dem abhebt, was normativ klingt…
Und dennoch hatte ich nach langer Zeit wieder einen Zusammenbruch. In der Öffentlichkeit, an einem besonderen Ort.
Und den möchte ich an dieser Stelle teilen.
Unter Neurodivergenten hat man sich auf 3 Stufen geeinigt, nämlich die Überflutung, die Kernschmelze und den letztlichen Zusammenbruch.
Überflutung
(englisch Overload)
Das Lebensgefühl von autistischen Menschen, wenn man in Selbsthilfegruppen zuhört, zwischen den Zeilen lesen oder gar Memes vertrauen kann. Im Sinne der 3 Stufen meint Überflutung jedoch ein außergewöhnlich kritisches Level an Überreizung, Über(be)lastung, Überbeanspruchung, Überforderung und Überspannung, das sich im besten Falle schmerzlich bemerkbar macht.
Im ungünstigen Fall aber erst zu spät, weil wir Menschen die Fähigkeit des Aus- und Durchhaltens nur zu gern einsetzen.
Meine konkrete Überflutung setzte sich aus mehreren Elementen zusammen: Veränderungen im Leben (neues Handy mit Lieferungshürden, Ende meines Arbeitsvertrages bei der langjährigen Firma, Planung eines neuen Portemonnaiekonzepts, Gedanken zu neuen Beschäftigungshorizonten, Neudenken von Routinen), Mittragen von Sorgen, ein Städtetrip mit Bahnfahrten, etwas Weltschmerz, etwas Herzschmerz, Sonne, Menschen, Mittelaltermarkt, alte Eindrücke, neue Eindrücke, menschliche Bedürfnisse.
Jede Sache hat ja ihr Gutes und ich habe stets gute Argumente für das Gewissen. Und je weniger man aktiv an jeden einzelnen Punkt denkt, desto einfacher wird das Leben, aber genau das ist eben unendlich schwer. Und wenn man obendrein keinen guten Eimer hat, das Wasser aus dem Kahn zu schippen, dann steht es einem schneller als gewollt bis zum Halse und die Luft wird eng…
Crash
(englisch Meltdown)
Hier ist der Druck zu groß für die Hirnrinde und irgendetwas muss passieren! Wie das aussehen kann, ob allzu deutlich oder vollständig unterdrückt, ist ganz von dem individuellen Betroffenen abhängig. Folgen hat es aber immer, ob nun sichtbar oder nicht.
Ich bin sehr gut im Unterdrücken. Mit Ausbrüchen habe ich schlechte Erfahrungen gemacht und wurde als Kind in engen Bahnen erzogen. Das hat mir wahrscheinlich viel Reiberei erspart und mich geduldig und nachsichtig erscheinen lassen, aber irgendwo müssen die angestauten Gefühle hinplatzen.
Es war beim Höhepunkt des Tages, dem großen Showturnier, als mein Eimer nicht mehr für die Flut an Eindrücken ausreichte. Menschen zu nah neben mir, Jubeln und Klatschen, schäumende Pferde, Schauspiel, kein freier Platz in Sicht, immer auf der Hut vor achtlosen Berührungen, bloß nicht das große Spektakel verpassen, weswegen wir hier sind.
Alle Bedürfnisse laut loszuschreien, Leute in die Schranken zu weisen, ummichzuschlagen und wegzulaufen konnte ich meisterhaft unterdrücken, bin ja ein ordentlicher Mensch, so habe ich es erlernt.
Und trotz rigorosem Einsatz von Stimming-Tools (ein Fidgetgadget und ein Akupressurring) platzte dann die andere Seite, die in mir drin.
Zusammenbruch
(englisch Shutdown)
Die unmittelbare Konsequenz.
Einen Zusammenbruch habe ich häufig mit einer Pflanze verglichen, die ihre Blüten schließt und verdorrt.
Es ist nichts mehr übrig, ich verkrampfe, schließe ungeachtet der Umgebung die Augen, um wenigstens etwas der Sinneseindrücke zu dämpfen. Meinen Gehörschutz hatte ich schon vor Beginn der Show drin, denn ohne den wären meine Nerven schon viel früher blank.
Zum Ende des Spektakels wurden Plätze neben mir frei, sodass ich nicht länger all meine Muskelkraft auf das bei-mir-Halten meiner Gliedmaßen konzentrieren musste und etwas Raum zum Atmen fand. Da wurde es deutlich, in welcher Lage mein Organismus steckte. Ich atmete wie ein Marathonläufer nach dem Rennen.
Während all diese Dinge passieren, läuft ein bestimmter Teil meines Gehirns aber weiter. Nämlich der, der sich anpassen und sich mit der Umgebung verschmelzen möchte. Zum Mitklatschen hatte ich die ganze Zeit keine Kraft, wobei ich nur hoffen konnte, dass das niemanden stört. Aber viel schlimmer ist der offensichtliche Gedanke, dass kaum ein Mensch um mich herum versteht, was in mir vorgeht. Ich kann es ja erklären, so wie ich es jetzt über Stunden per Text verfasse, aber in dem Moment selbst, in der Aufruhr in der ich mich befinde..unmöglich!
Und dieses Gefühl, dass man gerade dort unter Tausenden von Menschen einsam und alleine unter Dingen leidet, für die viel Geld gezahlt wird und die die Menschen zu erfreuen scheinen und die mich ja auch erfreut haben die anderen Jahre, das versetzte mir den vorletzten Stoß.
Der letzte Stoß war ein physischer. Beim Verlassen der Tribüne, wo ich links und rechts niemanden mehr bei mir hatte und alle Anstrengung keuchend und schnaufend zu verarbeiten versuchte, bekam ich einen Knuff, möglicherweise versehentlich, in den Nacken.
Menschen die mich gut kennen, wissen, wie ich mich manchmal erschrecken kann. Das hängt allzu oft mit Anspannung zusammen, die ich selten identifizieren und noch seltener kommunizieren kann.
So war meine körperliche Reaktion hier auch heftiger als ich für möglich gehalten hätte. Mit einem großen Ruck zuckte ich auseinander und wieder zusammen und mein Kopf und meine Arme rekompensierten spastisch den unverhofften Schock.
Peinlich. Unkontrolliert. Unangemessen. Schnell flüchtete ich auf eine freigewordene Bank, wo ich in allen Richtungen Platz hatte und atmete weiter und knetete meine Stimming-Tools. Jegliche Komposition dahin. Augen zu. Tränen. Gedankenstürme. Einsamkeit im Getümmel.
Aber ich war nicht allein. Mein lieber Freund, mit dem ich ja dort war, fing mich auf. Für Worte hatte ich keine Kapazitäten mehr, daher einigten wir uns per WhatsApp, dass es okay wäre zu gehen und mit gesenktem Blick und keinerlei Anstalten, mich wie ein gesunder Mensch zu verhalten, ging es wieder zurück zur Unterkunft. Mit immer weniger und weniger Menschen, aber vor allem dem Verständnis der einen Person, mit der ich unterwegs war, schaffte ich es mich zu beruhigen und nach einem Nachtschlaf und ohne weitere spontane Stressfaktoren kam ich mit meiner Energie noch glimpflich über das gemeinsame Wochenende.
Was brauche ich in dem Moment denn?
Viel wichtiger ist, was ich davor hätte brauchen können, besonders bevor es zu spät war und auch bevor es viel zu spät war.
Nämlich grundsätzliche Vorbereitung, wie ich mich in der derartigen Situation verhalten könnte, was es für Reißleinen in Notfällen gibt, was okay und akzeptabel ist und die Gewissheit, dass es für die Windungen meines Hirns Verständnis gibt.
Das ist möglicherweise utopisch, aber das hätte auch im plötzlich wütenden Sturm geholfen.
Was aber in dem heißen Moment hilft, und die folgenden Punkte tragen schonmal zum Faktor „Verständnis für die Hirnwindungen und -Wendungen“ bei, ist die Vermeidung neuer Sinneseindrücke, Schaffen von Raum, unverbindliche Angebote von konkreten Hilfestellungen (ich höre das, kann aber eventuell nicht angemessen reagieren) und das Abnehmen von Kommunikationssorgen.
Ab von dem konkreten Beispiel, wo einiges den Umständen entsprechend gut lief, sind hier Vorschläge, was im Falle eines bereits in Sinnesnot geratenen Menschen hilfreich sein könnte:
- Selbst darauf achten, keine plötzlichen Geräusche, Berührungen oder ähnliches zu verursachen
- Je nach Umgebung der betroffenen Person ihren Platz lassen und eventuell andere um Nachsicht zu bitten
- Sollten Entscheidungen zur Ortsveränderung notwendig sein (entfernen von der Menge, umsetzen), darauf achten, dass die Antwortmöglichkeiten möglichst nonverbal sind: „Wenn wir jetzt zum [konkreter sicherer Ort] gehen wollen, steh einfach auf und dann werde ich vorausgehen.“ So ist die Wahl der Handlung ohne zusätzliche Kommunikation möglich
- Wenn auf dem Wege in Sicherheit weitere Kommunikationshürden liegen, wie der Kauf eines Bustickets oder andere Situationen mit direktem Menschenkontakt, hilft es sehr, wenn ein Fürsprecher vermittelt
Und es hat auch was abenteuerlich-professionelles, wenn wir aus dem Hause gehen, bis an die Zähne ausgerüstet mit Gehörschutz, Stimming-Tools, alternativen Kommunikationsmitteln, Notfallplänen und einem Köcher voll Handlungsstrategien.
So sind wir stark!