Spezialdesinteresse
Spezialdesinteresse
Dass Spezialinteressen Teil des autistischen Phänomens sind, ist gemeinhin bekannt, wobei ich mir dank meines freundlichen Umfeldes nie komisch vorkam, wo ich als Kind emsig die Dateien von Computerspielen nach interessanten Fragmenten durchsuchte, die aktuellen Automodelle und Handys in- und auswendig kannte, der wohl einzige junge Mensch mit aktivem Interesse an klassischer Musik war oder auch heute noch jegliche nackte Haut in Wissenswälzern mit verblüffender Präzision ausfindig machen könnte.
Spezialinteressen, also im höchsten Maße vereinnahmende und exzessiv verfolgte Aktivitäten können sich mit der Zeit auch wandeln, wiederkehren oder gar verschwinden.
Aber darum soll es nicht gehen, sondern um die Kehrseite.
Denn so sehr wir auch bemüht sind, Autismus mit den positivst gestimmten Augen zu sehen und Spezialinteressen meist wohlwollend betrachtet werden (und das ist auch gut so, weil dieser Hyperfokus essenziell für ein neurodivergentes Gehirn ist), gibt es da auch die rein restriktiven Verhaltensweisen.
Und da geht es weniger um die Ablehnung feindlicher Sinneseindrücke, wie den Restaromen von Minzöl (hurghs) oder der widersinnigen Mischung von Milch und Nudeln (schluchz) oder der Meidung von aufgepeitschten Menschenmassen (Demonstrationen ganz schlimm).
Es geht um die Dinge, denen gegenüber ähnliche Energien aufgebracht werden wie für die eigenen Interessensfelder, nur mit dem grundlegenden Unterschied, dass diese Dinge mit einer unumstößlichen und Nachteile in Kauf nehmenden Macht abgelehnt werden.
Bei mir schließt das ein (aber beschränkt sich nicht auf): Lokalradio, Fußball, die Synchronisierung von Filmen in eine andere Sprache.
Wäre ich nicht der Selbstreflexion mächtig, würde das nach unnötigem Hass klingen; und ich habe lange Zeit auch nicht verstanden, woher diese tiefe Abneigung kommt. Fußball mochte ich als Kind sogar, zumindest das Stickerheft der WM 2002 mit den vielen Daten und Fakten und Sammelanreiz. Aber irgendwas an dem Ausmaß der Emotionen und eigenen Beobachtungen, wie sich die Natur eines Menschen im Spielen wandeln kann, passte nicht mit dem Spiel an sich zusammen. Und das alles dann auf die große Industrie des Fußballs heute projiziert, habe ich nur Unverständnis und eine große Blockade zu Fußballfankulturkreisen. Die gute Nachricht: Mir geht es gut damit und den anderen auch.
Und den Reiz, etwas Unbeeinflussbarem zuzufiebern, kann man sich auch anders besorgen.
Musik ist ein anderes Spezialthema, was mit bewusster Einnahme musikalischer Werke zu tun hat und mit dem Würdigen einer sehr individuellen und mitunter extrem emotionalen Kunstform. Aufgrund der über die Jahre zweifelhaften Auswahl der Lokalradiosender und dem Fokus auf „leicht anhörbar und unaufregend“ und dem Fakt, dass es weithin aufgrund des „Radios“ und nicht aufgrund des verbreiteten Inhaltes eingeschaltet wird, passt Lokalradio so wenig in mein Weltbild und in meine Sinnesschleusen, dass ich es nur kategorisch und mit einer tiefen Überzeugung ablehne.
Und „einfach weghören“ ist leider unmöglich, da nebst meinen Ohren auch mein Gehirn Geräusche quasi unfilterbar wahrnimmt.
In der Sache mit den Filmen bin ich mit anderen Deutschen schon auf Entrüstung und Unverständnis gestoßen, da es diesem Volke wohl mehr am Herzen liegt, alle übersetzten Wörter zu verstehen (mittels der Synchronsprechweise auch akustisch unfehlbar), als die schauspielerische Leistung zu würdigen. Denn Stummfilm ist schon lange out und heutzutage transportiert ein Schauspieler seine Rolle maßgebend über seine Stimme.
Zudem ist es eine Frage des Gesamtwerkes: Welche Sprache werden die Mitarbeitenden wohl gesprochen haben und welchem Sprachraum werden die Gedanken am Set oder im Studio wohl zuzuordnen gewesen sein? Ist die Vision derer, die für die Entstehung und Vollendung des Films verantwortlich sind, möglicherweise auf eine spezielle Sprache bezogen?
Zweifellos schafft Synchronisation Jobs und Zugänglichkeit (nebst Untertiteln, wohlgemerkt), aber kann sie auch Kunst schaffen?
Beispiele für besondere Synchros sind die Filme mit Bud Spencer und Terence Hill, die im Deutschen nur durch ihre sehr kunstschaffende und freie Übersetzung Kultstatus erhielten. Oder Coldmirrors Harry-Potter-Umdichtung, wobei ich da etwas vorsichtig bin, um nicht irgendwann dem Originalwerk nicht mehr den gebührenden Respekt zu zollen.
Wenn nun jemandem der faktische Inhalt eines Filmes im Rahmen des deutschen Sprachraums und Sprechgehabes mehr wert ist als das, was wirklich zu seiner Entstehung beitrug, dann sitze ich wohl auf einem gegenüberliegenden Ast des Filmebaums und akzeptiere das, aber kann es nicht mit meinem persönlichen Anspruch an Kunst und Kultur vereinbaren.
Was ich damit aufzeigen möchte, ist folgendes: Die Gründe hinter Spezialinteressen und Spezialdesinteressen liegen oft im selben Nest und können den selben Kern wiederspiegeln.
Auch wenn ein Mensch, ob Kind oder erwachsen, nicht genau sagen kann, was ihn nun dazu bringt, sich mit Händen und Füßen gegen eine „völlig normale, ja sogar tolle“ Sache zu wehren, gibt es da tiefere Gründe. Und diese Gründe sind möglicherweise sogar ganz positiv und anhand der öfter im Fokus stehenden Spezialinteressen zu erkennen.

