Spezialdesinteresse

Spezialdesinteresse

Dass Spezialinteressen Teil des autistischen Phänomens sind, ist gemeinhin bekannt, wobei ich mir dank meines freundlichen Umfeldes nie komisch vorkam, wo ich als Kind emsig die Dateien von Computerspielen nach interessanten Fragmenten durchsuchte, die aktuellen Automodelle und Handys in- und auswendig kannte, der wohl einzige junge Mensch mit aktivem Interesse an klassischer Musik war oder auch heute noch jegliche nackte Haut in Wissenswälzern mit verblüffender Präzision ausfindig machen könnte.
Spezialinteressen, also im höchsten Maße vereinnahmende und exzessiv verfolgte Aktivitäten können sich mit der Zeit auch wandeln, wiederkehren oder gar verschwinden.

Aber darum soll es nicht gehen, sondern um die Kehrseite.
Denn so sehr wir auch bemüht sind, Autismus mit den positivst gestimmten Augen zu sehen und Spezialinteressen meist wohlwollend betrachtet werden (und das ist auch gut so, weil dieser Hyperfokus essenziell für ein neurodivergentes Gehirn ist), gibt es da auch die rein restriktiven Verhaltensweisen.
Und da geht es weniger um die Ablehnung feindlicher Sinneseindrücke, wie den Restaromen von Minzöl (hurghs) oder der widersinnigen Mischung von Milch und Nudeln (schluchz) oder der Meidung von aufgepeitschten Menschenmassen (Demonstrationen ganz schlimm).
Es geht um die Dinge, denen gegenüber ähnliche Energien aufgebracht werden wie für die eigenen Interessensfelder, nur mit dem grundlegenden Unterschied, dass diese Dinge mit einer unumstößlichen und Nachteile in Kauf nehmenden Macht abgelehnt werden.

Bei mir schließt das ein (aber beschränkt sich nicht auf): Lokalradio, Fußball, die Synchronisierung von Filmen in eine andere Sprache.
Wäre ich nicht der Selbstreflexion mächtig, würde das nach unnötigem Hass klingen; und ich habe lange Zeit auch nicht verstanden, woher diese tiefe Abneigung kommt. Fußball mochte ich als Kind sogar, zumindest das Stickerheft der WM 2002 mit den vielen Daten und Fakten und Sammelanreiz. Aber irgendwas an dem Ausmaß der Emotionen und eigenen Beobachtungen, wie sich die Natur eines Menschen im Spielen wandeln kann, passte nicht mit dem Spiel an sich zusammen. Und das alles dann auf die große Industrie des Fußballs heute projiziert, habe ich nur Unverständnis und eine große Blockade zu Fußballfankulturkreisen. Die gute Nachricht: Mir geht es gut damit und den anderen auch.
Und den Reiz, etwas Unbeeinflussbarem zuzufiebern, kann man sich auch anders besorgen.

Musik ist ein anderes Spezialthema, was mit bewusster Einnahme musikalischer Werke zu tun hat und mit dem Würdigen einer sehr individuellen und mitunter extrem emotionalen Kunstform. Aufgrund der über die Jahre zweifelhaften Auswahl der Lokalradiosender und dem Fokus auf „leicht anhörbar und unaufregend“ und dem Fakt, dass es weithin aufgrund des „Radios“ und nicht aufgrund des verbreiteten Inhaltes eingeschaltet wird, passt Lokalradio so wenig in mein Weltbild und in meine Sinnesschleusen, dass ich es nur kategorisch und mit einer tiefen Überzeugung ablehne.
Und „einfach weghören“ ist leider unmöglich, da nebst meinen Ohren auch mein Gehirn Geräusche quasi unfilterbar wahrnimmt.

In der Sache mit den Filmen bin ich mit anderen Deutschen schon auf Entrüstung und Unverständnis gestoßen, da es diesem Volke wohl mehr am Herzen liegt, alle übersetzten Wörter zu verstehen (mittels der Synchronsprechweise auch akustisch unfehlbar), als die schauspielerische Leistung zu würdigen. Denn Stummfilm ist schon lange out und heutzutage transportiert ein Schauspieler seine Rolle maßgebend über seine Stimme.
Zudem ist es eine Frage des Gesamtwerkes: Welche Sprache werden die Mitarbeitenden wohl gesprochen haben und welchem Sprachraum werden die Gedanken am Set oder im Studio wohl zuzuordnen gewesen sein? Ist die Vision derer, die für die Entstehung und Vollendung des Films verantwortlich sind, möglicherweise auf eine spezielle Sprache bezogen?
Zweifellos schafft Synchronisation Jobs und Zugänglichkeit (nebst Untertiteln, wohlgemerkt), aber kann sie auch Kunst schaffen?
Beispiele für besondere Synchros sind die Filme mit Bud Spencer und Terence Hill, die im Deutschen nur durch ihre sehr kunstschaffende und freie Übersetzung Kultstatus erhielten. Oder Coldmirrors Harry-Potter-Umdichtung, wobei ich da etwas vorsichtig bin, um nicht irgendwann dem Originalwerk nicht mehr den gebührenden Respekt zu zollen.
Wenn nun jemandem der faktische Inhalt eines Filmes im Rahmen des deutschen Sprachraums und Sprechgehabes mehr wert ist als das, was wirklich zu seiner Entstehung beitrug, dann sitze ich wohl auf einem gegenüberliegenden Ast des Filmebaums und akzeptiere das, aber kann es nicht mit meinem persönlichen Anspruch an Kunst und Kultur vereinbaren.

Was ich damit aufzeigen möchte, ist folgendes: Die Gründe hinter Spezialinteressen und Spezialdesinteressen liegen oft im selben Nest und können den selben Kern wiederspiegeln.

Auch wenn ein Mensch, ob Kind oder erwachsen, nicht genau sagen kann, was ihn nun dazu bringt, sich mit Händen und Füßen gegen eine „völlig normale, ja sogar tolle“ Sache zu wehren, gibt es da tiefere Gründe. Und diese Gründe sind möglicherweise sogar ganz positiv und anhand der öfter im Fokus stehenden Spezialinteressen zu erkennen.

Warum wir Was Wie tun

Warum wir Was Wie tun

Neulich kam ich innerhalb der Selbsthilfegruppe wieder ins Philosophieren und so ist diese Abhandlung über meine Gedanken zustande gekommen.

Die Frage nach dem Warum, dem Wie und dem Was kann je nach Situation unterschiedlich beatrachtet werden und man kann über alle Anwendungsfälle sicher Romane schreiben.
Aber ich möchte das erstmal allgemein und dann auf das Familienleben auslegen.

Als Kind war „Warum hast du das gemacht?“ die schlimmste Frage für mich. Im Matheunterricht beirrte mich die Aussage „Das Ergebnis zählt weniger als der Rechenweg.“ (das Wie schien also überaus wichtig zu sein) und nachdem ich alle Was-ist-Was?-Bücher verinnerlicht hatte, war ich im dritten Fragewortbereich schon ganz stark unterwegs (ein schnell korrigierter Irrglaube).

Gerade im Heranwachsen, besonders im besonderen Lebenswandel neurodivergenter Kinder, kommen diese drei Fragen leider allzu oft schmerzlich zu Tage, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung:

 

Das Was

Sicherlich ist der Schulabschluss und ein Berufsweg am ersten Arbeitsmarkt erstrebenswert, sicherlich hat der Mensch als soziales Wesen in einem Freundeskreis und in der Familie seinen Auftritt zu machen, sicherlich soll ein eigenverantwortlicher/ gesunder/ umsichtiger Alltag Priorität sein.

 

Das Wie

Hier wird es auf einmal individuell, wo jede Person ihre eigene Herangehensweise entwickelt. Das heißt aber nicht, dass sich diese ganz von allein bildet, nein, das Wie hat oft große Ähnlichkeiten mit der Natur der einflussreichsten Menschen im Leben (meist sind das die Eltern).
Und die Vorstellung dieser Leute kann sich auf kleine Dinge im täglichen Umgang beziehen oder auf große Lebensentscheidungen.
Mir wurde im Leben oft zugetragen, dass wie ich mich ausdrücke besonders sei, aber auch wie ein Kind seinen Interessen nachgeht, oder wie wir essen, sind alles Dinge die wenig mit dem eigentlichen Was zu tun haben. Ebenso folgen der Karriereweg oder andere persönliche Lebensentscheidungen meist ausgetretenen Pfaden.

 

Das Warum

Sollten wir in der Sackgasse stecken, dass weder alle Antworten auf das hochindividuelle „wie man das Leben zu leben hat“, noch die einzelnen kleinen Dinge „was es im Leben zu schaffen gilt“ im Lebens(ver)lauf zu funktionieren scheinen, dürfen wir uns noch eine Ebene höher hinaufwagen.

Diese Ebene ist angenehm weit weg vom Was und vom Wie und hat dennoch den größten Einfluss auf dieselben. Diese Ebene hinterfragt, ganz wie ein neugieriges Kind, warum wir etwas tun.
Und so richtig spannend wird es erst, wenn wir uns selbst aktiv fragen, warum wir was eigentlich tun. Ganz einfach: wenn jemand genau weiß, warum er auf dieser Welt ist, dann wird er keine Probleme mit den Fragen „Was tue ich?“ und „Wie tue ich das?“ haben.
Mit einem zufriedenstellenden Warum hat das Wie auch weniger mit irgendjemandes (inklusive der eigenen!!) Vorstellungen zu tun, sondern nur noch mit der Sache.

Wenn man sich nicht mehr fragt, wie Schuhe am besten zuzubinden sind, sondern da ansetzt, warum man überhaupt Schuhe trägt oder warum diese Schnürsenkel haben müssen, finden sich viele Alternativen, diese Hürde vielleicht ganz in der Vergangenheit zu lassen.
Geht es um Essgewohnheiten (Google: Autism Sampler Platter), lässt sich eine gesunde Richtung nahe am Warum leichter einschlagen als ein blinder Gemüsekonsum aufgrund von „Iss dein Gemüse PUNKT“.
Auch die Schule wird aus guten Gründen Kindern aller Couleur auferlegt, aber wenn sich heutzutage Systemsprenger häufen, hat das den guten Effekt, dass manche Schulen ihren Auftrag neu überdenken und im Wie weitaus mehr Spielraum lassen, um das Was zu erreichen. Aber bis das allerseits Normalität wird, ist noch viel zu tun.
Und wenn man irgendwann begriffen hat, warum es sowas wie Freunde gibt, kommt es nur noch wenig darauf an, wie diese Freundschaft aussieht.

Als letzten Praxistipp gibt es noch die verblüffende Methode des Erfindens von einem Warum.
Denn wenn man sehr gerne ein gutes Warum hätte, um etwas zu tun, aber sich so schnell keines findet, kann man sich einfach eines aus den Fingern saugen. Wichtige Faustregel: Wenn es niemandem schadet, ist es legitim.

Diese Gedanken sollen Mut machen, wenn der Alltag mit Kindern oder mit sich selbst mal schwer ist.
Wenn sich alles nicht so richtig anfühlt, gibt es immer noch eine Ebene, wo wir uns mit den Konstanten um uns herum vertragen können. (möglicherweise sind die gar nicht sooo konstant, aber pssst)

 

 

Ode an die Brettspiele

Ode an die Brettspiele

In letzter Zeit ist mir der Mund des öfteren von einer Freizeitbeschäftigung übergegangen, die zwar nicht neu, aber in den vergangenen Monaten zu meinem lieben Begleiter geworden ist.

Und das sind Brettspiele.

Nach und nach haben sich die Wunden der beizeiten gar grausig faden Erfahrungen mit mittelmäßigen Spielen in spannende Abenteuer und erzählenswerte Geschichten verwandelt, die man nur zu gerne weiterempfiehlt.

Wir haben Zoos gebaut, mystische Gewässer besegelt, atemberaubende Schlachten ausgefochten, Zivilisationen gerettet, sind ins Weltall gereist, haben verlotterte Verliese erkundet, Kryptide gejagt und sooo vieles mehr!

Die allgemeine Faszination für vorgefertigte Welten habe ich bereits an anderer Stelle näher erläutert. Doch bei Brettspielen ist der Stretch zwischen der erzählten Geschichte und ihrer abstrahierten Umsetzung deutlich virtuoser.

Durch Mechanismen und Illustration, Haptik und Regelwerk, Szenario und Erwartungen entsteht ein wundergefüllter Anlass, mit Freunden und Familie zusammenzukommen.

Ein Spiel zu erlernen, in ein Spiel einzutauchen, es zu meistern oder all diese Freuden mit anderen zu teilen ist doch der Traum derjenigen, die Spiele erdenken und gestalten.

Sicherlich hatte schon jeder irgendwie Berührung mit Brettspielen, und die unterschiedlichen Vorlieben sind weit gefächert.

Zusammenzukommen und Dinge miteinander zu erleben ist an sich schon ein schönes Spiel, jedoch so sehr ein autistischer Mensch alle Spielmechaniken auch lieben mag, sollte er nicht trotzdem gewisse Vorbehalte gegenüber dem „Andere-Leute“-Faktor haben?

Ein gutes Beispiel, das ich oft heranziehe, ist jener Von-11-bis-11-Spieletag, den ein Freund vor einiger Zeit organisiert hat. Das war zu der Zeit, als ich besonders wenig Energie hatte. Dennoch war der Rahmen flexibel genug, um meinen Akku mal zu testen und jederzeit aufbrechen zu können.

Bin ich vor 11 Uhr abends gegangen? Nein. Waren viele Menschen da? Ja. Kannte ich die meisten? Nein. Habe ich trotzdem mit ihnen gespielt? Ja. Bin ich auch nur ansatzweise erschöpft gewesen? Nein. War ich am Ende überrascht? Ein wenig.

Es zeigt sich: Brettspiele sind abgesehen von ihrem offensichtlichen Vergnügen ein hervorragendes Beispiel für sinnvolle Anpassungsmaßnahmen an mein Gehirn:

  1. Es gibt ein Regelbuch und das erklärt alles, was man über das Spiel auf dem Tisch wissen muss.
  2. Alle Inhalte der Schachtel sind sauber aufgelistet.
  3. Jede erwünschtenswerte Handlung und alle Siegbedingungen sind klar definiert.
  4. Wenn das Spiel nicht explizit davon abweicht, ist es stets für alle gleichermaßen gerecht.
  5. Alle Mitspieler nutzen die selbe Sprache für wichtige Elemente des Spiels.
  6. Spiele haben klare Endbedingungen.
  7. Die Wahrscheinlichkeit, Ordnung anstelle von Chaos zu finden, ist hoch.
  8. Innerhalb der Regeln ist alles möglich.

Natürlich hängt der letztendliche Spaß mancher Spieleabende von äußeren Umständen ab, dann von den vorgefassten Erwartungen, dann kommt lange nichts, und dann von dem Fakt, dass ein Brettspiel gespielt wird.

Also, komm mit in die GefahrenKomfortzone, und lass uns spielen!

Crash

Crash

 

Der Junge im Video korrigiert die Mutter strahlend: „Ich leide nicht unter Autismus, ich hab das einfach nur.“

Ja, ich habe das auch einfach nur. Und was auch immer wir Menschen haben oder nicht haben, wir tun alles dafür, nicht leiden zu müssen. Obwohl das Level an Leid und dessen Akzeptanz oft allzu variabel gehalten wird.
Was nur, wenn ein Leiden plötzlich und unverhofft daherkommt? Plötzlich alles unerträglich ist und plötzlich unsere Welt zerfällt?
Was, wenn wir das Trauma eines Zusammenbruchs sehr fürchten und die Kunst zu Leben darin besteht, diese möglichst zu verhindern?

Mittlerweile habe ich, besonders in den letzten Jahren, viel darüber gelernt, was meine Ängste, mein unterbewusstes Lebensdesign und meine neurodivergente Art betrifft. Eigentlich ein ganz eigenes Thema, wie sich ein (für mich) stressarmes Leben von dem abhebt, was normativ klingt…

Und dennoch hatte ich nach langer Zeit wieder einen Zusammenbruch. In der Öffentlichkeit, an einem besonderen Ort.
Und den möchte ich an dieser Stelle teilen.

Unter Neurodivergenten hat man sich auf 3 Stufen geeinigt, nämlich die Überflutung, die Kernschmelze und den letztlichen Zusammenbruch.

 

Überflutung

(englisch Overload)

Das Lebensgefühl von autistischen Menschen, wenn man in Selbsthilfegruppen zuhört, zwischen den Zeilen lesen oder gar Memes vertrauen kann. Im Sinne der 3 Stufen meint Überflutung jedoch ein außergewöhnlich kritisches Level an Überreizung, Über(be)lastung, Überbeanspruchung, Überforderung und Überspannung, das sich im besten Falle schmerzlich bemerkbar macht.
Im ungünstigen Fall aber erst zu spät, weil wir Menschen die Fähigkeit des Aus- und Durchhaltens nur zu gern einsetzen.

Meine konkrete Überflutung setzte sich aus mehreren Elementen zusammen: Veränderungen im Leben (neues Handy mit Lieferungshürden, Ende meines Arbeitsvertrages bei der langjährigen Firma, Planung eines neuen Portemonnaiekonzepts, Gedanken zu neuen Beschäftigungshorizonten, Neudenken von Routinen), Mittragen von Sorgen, ein Städtetrip mit Bahnfahrten, etwas Weltschmerz, etwas Herzschmerz, Sonne, Menschen, Mittelaltermarkt, alte Eindrücke, neue Eindrücke, menschliche Bedürfnisse.
Jede Sache hat ja ihr Gutes und ich habe stets gute Argumente für das Gewissen. Und je weniger man aktiv an jeden einzelnen Punkt denkt, desto einfacher wird das Leben, aber genau das ist eben unendlich schwer. Und wenn man obendrein keinen guten Eimer hat, das Wasser aus dem Kahn zu schippen, dann steht es einem schneller als gewollt bis zum Halse und die Luft wird eng…

 

Crash

(englisch Meltdown)

Hier ist der Druck zu groß für die Hirnrinde und irgendetwas muss passieren! Wie das aussehen kann, ob allzu deutlich oder vollständig unterdrückt, ist ganz von dem individuellen Betroffenen abhängig. Folgen hat es aber immer, ob nun sichtbar oder nicht.
Ich bin sehr gut im Unterdrücken. Mit Ausbrüchen habe ich schlechte Erfahrungen gemacht und wurde als Kind in engen Bahnen erzogen. Das hat mir wahrscheinlich viel Reiberei erspart und mich geduldig und nachsichtig erscheinen lassen, aber irgendwo müssen die angestauten Gefühle hinplatzen.

Es war beim Höhepunkt des Tages, dem großen Showturnier, als mein Eimer nicht mehr für die Flut an Eindrücken ausreichte. Menschen zu nah neben mir, Jubeln und Klatschen, schäumende Pferde, Schauspiel, kein freier Platz in Sicht, immer auf der Hut vor achtlosen Berührungen, bloß nicht das große Spektakel verpassen, weswegen wir hier sind.
Alle Bedürfnisse laut loszuschreien, Leute in die Schranken zu weisen, ummichzuschlagen und wegzulaufen konnte ich meisterhaft unterdrücken, bin ja ein ordentlicher Mensch, so habe ich es erlernt.
Und trotz rigorosem Einsatz von Stimming-Tools (ein Fidgetgadget und ein Akupressurring) platzte dann die andere Seite, die in mir drin.

 

Zusammenbruch

(englisch Shutdown)

Die unmittelbare Konsequenz.
Einen Zusammenbruch habe ich häufig mit einer Pflanze verglichen, die ihre Blüten schließt und verdorrt.
Es ist nichts mehr übrig, ich verkrampfe, schließe ungeachtet der Umgebung die Augen, um wenigstens etwas der Sinneseindrücke zu dämpfen. Meinen Gehörschutz hatte ich schon vor Beginn der Show drin, denn ohne den wären meine Nerven schon viel früher blank.

Zum Ende des Spektakels wurden Plätze neben mir frei, sodass ich nicht länger all meine Muskelkraft auf das bei-mir-Halten meiner Gliedmaßen konzentrieren musste und etwas Raum zum Atmen fand. Da wurde es deutlich, in welcher Lage mein Organismus steckte. Ich atmete wie ein Marathonläufer nach dem Rennen.

Während all diese Dinge passieren, läuft ein bestimmter Teil meines Gehirns aber weiter. Nämlich der, der sich anpassen und sich mit der Umgebung verschmelzen möchte. Zum Mitklatschen hatte ich die ganze Zeit keine Kraft, wobei ich nur hoffen konnte, dass das niemanden stört. Aber viel schlimmer ist der offensichtliche Gedanke, dass kaum ein Mensch um mich herum versteht, was in mir vorgeht. Ich kann es ja erklären, so wie ich es jetzt über Stunden per Text verfasse, aber in dem Moment selbst, in der Aufruhr in der ich mich befinde..unmöglich!

Und dieses Gefühl, dass man gerade dort unter Tausenden von Menschen einsam und alleine unter Dingen leidet, für die viel Geld gezahlt wird und die die Menschen zu erfreuen scheinen und die mich ja auch erfreut haben die anderen Jahre, das versetzte mir den vorletzten Stoß.

Der letzte Stoß war ein physischer. Beim Verlassen der Tribüne, wo ich links und rechts niemanden mehr bei mir hatte und alle Anstrengung keuchend und schnaufend zu verarbeiten versuchte, bekam ich einen Knuff, möglicherweise versehentlich, in den Nacken.

Menschen die mich gut kennen, wissen, wie ich mich manchmal erschrecken kann. Das hängt allzu oft mit Anspannung zusammen, die ich selten identifizieren und noch seltener kommunizieren kann.
So war meine körperliche Reaktion hier auch heftiger als ich für möglich gehalten hätte. Mit einem großen Ruck zuckte ich auseinander und wieder zusammen und mein Kopf und meine Arme rekompensierten spastisch den unverhofften Schock.
Peinlich. Unkontrolliert. Unangemessen. Schnell flüchtete ich auf eine freigewordene Bank, wo ich in allen Richtungen Platz hatte und atmete weiter und knetete meine Stimming-Tools. Jegliche Komposition dahin. Augen zu. Tränen. Gedankenstürme. Einsamkeit im Getümmel.

Aber ich war nicht allein. Mein lieber Freund, mit dem ich ja dort war, fing mich auf. Für Worte hatte ich keine Kapazitäten mehr, daher einigten wir uns per WhatsApp, dass es okay wäre zu gehen und mit gesenktem Blick und keinerlei Anstalten, mich wie ein gesunder Mensch zu verhalten, ging es wieder zurück zur Unterkunft. Mit immer weniger und weniger Menschen, aber vor allem dem Verständnis der einen Person, mit der ich unterwegs war, schaffte ich es mich zu beruhigen und nach einem Nachtschlaf und ohne weitere spontane Stressfaktoren kam ich mit meiner Energie noch glimpflich über das gemeinsame Wochenende.

 

Was brauche ich in dem Moment denn?

Viel wichtiger ist, was ich davor hätte brauchen können, besonders bevor es zu spät war und auch bevor es viel zu spät war.
Nämlich grundsätzliche Vorbereitung, wie ich mich in der derartigen Situation verhalten könnte, was es für Reißleinen in Notfällen gibt, was okay und akzeptabel ist und die Gewissheit, dass es für die Windungen meines Hirns Verständnis gibt.
Das ist möglicherweise utopisch, aber das hätte auch im plötzlich wütenden Sturm geholfen.

Was aber in dem heißen Moment hilft, und die folgenden Punkte tragen schonmal zum Faktor „Verständnis für die Hirnwindungen und -Wendungen“ bei, ist die Vermeidung neuer Sinneseindrücke, Schaffen von Raum, unverbindliche Angebote von konkreten Hilfestellungen (ich höre das, kann aber eventuell nicht angemessen reagieren) und das Abnehmen von Kommunikationssorgen.

Ab von dem konkreten Beispiel, wo einiges den Umständen entsprechend gut lief, sind hier Vorschläge, was im Falle eines bereits in Sinnesnot geratenen Menschen hilfreich sein könnte:

  • Selbst darauf achten, keine plötzlichen Geräusche, Berührungen oder ähnliches zu verursachen
  • Je nach Umgebung der betroffenen Person ihren Platz lassen und eventuell andere um Nachsicht zu bitten
  • Sollten Entscheidungen zur Ortsveränderung notwendig sein (entfernen von der Menge, umsetzen), darauf achten, dass die Antwortmöglichkeiten möglichst nonverbal sind: „Wenn wir jetzt zum [konkreter sicherer Ort] gehen wollen, steh einfach auf und dann werde ich vorausgehen.“ So ist die Wahl der Handlung ohne zusätzliche Kommunikation möglich
  • Wenn auf dem Wege in Sicherheit weitere Kommunikationshürden liegen, wie der Kauf eines Bustickets oder andere Situationen mit direktem Menschenkontakt, hilft es sehr, wenn ein Fürsprecher vermittelt

Und es hat auch was abenteuerlich-professionelles, wenn wir aus dem Hause gehen, bis an die Zähne ausgerüstet mit Gehörschutz, Stimming-Tools, alternativen Kommunikationsmitteln, Notfallplänen und einem Köcher voll Handlungsstrategien.

So sind wir stark!